I. Vorwort
 
    In diesem Text soll nicht der gängigen Frage der Psychologen, Soziologen oder Anthropologen nachgegangen werden, warum und wie es dazu kommt, dass eine einzelne Person sich frei oder unfrei fühlt, die eigene Unterdrückung gutheißt oder sich dagegen auflehnt, selber unterdrückt oder rebelliert, weniger der Frage welche Vorstellungen, gedanklichen Konstrukte, philosophischen Ansichten diese einzelnen, verschiedenen Haltungen begleiten und in welcher Weise diese Vorstellungen und Meinungen mit diesen unterschiedlichen Haltungen korrespondieren.
 
    Die dem Essay zugrundeliegende Fragestellung ließe sich auf eine einfache Frage reduzieren, - Wie sieht ein Mensch, der sich frei fühlt die Welt und wie sieht ein Mensch, der sich nicht frei fühlt die Welt? - wenn diese Sichtweise nicht entscheidend Einfluß auf den Grund dieser Sichtweise wie gesellschaftliche Implikationen hätte. Unser Unterfangen kann zwar nicht die Frage nach dem Huhn und dem Ei sein; sofern sie überhaupt beantwortbar ist würde sie eine interdisziplinäre groß angelegte Forschung erfordern. Unser Augenmerk gilt vielmer den Auswirkungen der mit den unterschiedlichen Haltungen korrespondieren Vorstellungen, grundsätzlichen Auffassungen und Meinungen.
    Wenn es also unser Unterfangen übersteigt die ständigen Rückkoppelungen und damit Entstehungen der verschiedenen Lebenshaltungen zu untersuchen, so versuchen wir zumindest einen Blick zu werfen auf den möglichen Charakter der Bekräftigung schon bestehender Haltungen durch bestimmte Vorstellungen und Auffassungen.
    Dies ist kein streng akademischer Text im eigentlichen Sinn; es ist mehr die essayistische Erprobung einer These. Trotzdem ist die Ausformulierung unserer These in gewisse philosophische Voraussetzungen eingebettet, denn unser Anliegen kann nicht im theorielosen Raum stattfinden. In den nächsten Kapiteln geht es deshalb um die theoretischen Voraussetzungen für unsere noch folgenden Antworten.
 
II. Vorstellungen, Auffassungen, Ideologien
 
Vorstellungen, Ideen, Vermutungen begleiten unser ganzes Leben. Manchmal sind sie das Ergebnis unserer Wahrnehmungen, manchmal haben sie bestimmte Wahrnehmungen, Erfahrungen und Überlegungen zur Folge. Sie strukturieren unsere Wahrnehmungen, aber auch unsere Handlungen. Sie schieben sich in die Handlungen ein und sind von diesen nur schwer zu extrahieren. Viele Handlungen, die eigenen wie die der anderen, wären ohne die sie begleitenden Vorstellungen und Ideen kaum verständlich.
    Freud unterschied die Vorstellung von dem Affekt. Die Verdrängung trennt Vorstellung und Affekt, beide führen quasi fortan ein Eigenleben. Freud übernahm den Begriff Vorstellung aus der klassischen deutschen Philosophie und entwickelte daraus die „Sachvorstellungen“ und die „Wortvorstellungen“. Beide Begriffe greifen für das was uns vorschwebt zu kurz.
    „Vorstellungen“ in unserem Sinne sollen Meinungen, Ansichten bezeichnen, die der Einzelne sich von einer umfassenden Situation macht. Also nicht welches Verständnis er beispielsweise über die Funktionsweise eines Motors besitzt, sondern welcher wesentliche Gesamtzusammenhang seiner Ansicht nach beispielsweise das Funktionieren eines großen Fussballclubs ausmacht. Worin besteht für ihn die „determinierende“ Konstanz für das Funktionieren eines menschlichen Systems, welches sind für ihn die tragenden Werte des Zusammenlebens im Kleinen wie im Großen? „Vorstellungen“ bezeichnen Ansichten über das Wesentliche einer komplexen menschlichen Situation. Oder auch über das Gelingen oder Scheitern eines menschlichen Systems, sei es die Familie, die Dorfgemeinschaft, die Firma, die Nation.
 Umgangssprachlich werden psychologische Thesen, politische Ideen, gesellschaftliche Einschätzungen und andere Vermutungen  häufig als „Vorstellungen“ bezeichnet. Da heißt es zum Beispiel: Er hat die Vorstellung, seine Herkunft aus dem mediterranen Raum habe seine Kunst entscheidend geprägt.
 Auf Grund dieser viel sagenden und auch etwas schwammigen Verwendung des Begriff „Vorstellung“ im Alltag und in der Nähe dieser Verwendung wollen wir diesen Begriff übernehmen, als, wenn auch ungenauen, weit gespannten Oberbegriff.
    In der Philosophie nennt man Vorstellungsinhalte häufig „Ideen“. Der Begriff „Idee“ verweist auf die Tätigkeit des Geistes. Auch bei Kant ist die „Idee“ ein Entwurf für die tätige Selbstbestimmung vernünftiger Wesen. Zwar können die Ideen laut Kant zur begrifflichen Erkenntnis nichts beitragen, jedoch indem „… sie Grundsätze sind, unseren Verstandesgebrauch zur durchgängigen Einhelligkeit, Vollständigkeit und synthetischen Einheit (zu) bringen“ (Kant, Prolegomena §56), regulieren die Ideen die erkennende Verstandestätigkeit des Geistes, selbst wenn dieser versucht sich selbst zu erkennen. Die Idee bezeichnet ein Sollen des Geistes, kein Sein der Dinge. Die Verstandestätigkeit des Geistes steht keiner unbeschriebenen Welt gegenüber, sie muss sich mit Phänomenen herumschlagen, die immer schon in Zusammenhängen stehen, und die Erkenntnis eines Dinges steht im Zusammenhang mit vielen anderen schon vollzogenen Erkenntnissen. Der Geist braucht die Perspektive, aus der die Dinge, die Welt beleuchtet wird. Diese Perspektive ist die vorläufige, unvollständige, rudimentäre Idee von der Welt. Welt ohne Idee ist keine Welt. Und ob zuerst die Welt oder die Idee „geboren“ wurde, dies lässt sich für den tätigen Geist eines kleinen Menschenlebens nicht rekonstruieren, denn zumindest die Idee braucht die Welt und beide scheinen gleichzeitig aufzutauchen. Welt ohne Idee ist ein ontologisches Problem, kein psychologisches oder wenn man will kein anthropologisches. Selbst das psychosomatische Erleben des Neugeborenen ist tätige Selbstentfaltung des Geistes einschließlich der Herausbildung relativ einfacher Wahrnehmungsmuster. Diese Wahrnehmungsmuster des Neugeborenen sind seine Ideen. Sicherlich sind die Wahrnehmungsmuster eines Erwachsenen viel komplexer, beispielsweise in hohem Maße auf der Ebene des Kognitiven angesiedelt, und man sollte mit der Verwendung des Wortes „Idee“ für doch recht unterschiedliche Vorgänge vorsichtig sein. Jedoch tun wir es trotzdem, da die Gemeinsamkeit des Vorgangs beim Säugling wie beim Erwachsenen, nämlich die strukturierende Wahrnehmung, ob der nahen Umwelt oder der weiten Welt, es uns gerechtfertigt scheinen lässt.
    Die philosophiegeschichtliche Herausarbeitung des Begriffs Idee muss hier übergangen werden, da es unseren Rahmen völlig sprengen würde. Für unseren Zweck bezeichnen wir mit „Ideen“ Wahrnehmungsmuster eines Individuums. Oder anders gesagt: Die „Ideen“ eines Individuums strukturieren seine Wahrnehmung. Nicht mehr, nicht weniger. Die Wahrnehmungsmuster sind nicht das letzte Wort für die Wahrnehmung, sie geben nur die Struktur. Ohne Struktur keine Wahrnehmung, ohne Auge kein Licht. Oder besser: Ohne Struktur verwirrende Wahrnehmung, also Chaos, ohne Auge Dunkelheit, die kompensiert werden muss.
    „Vermutungen“ sind für uns Ansichten, über deren Richtigkeit man selbst im Unklaren ist und die kaum mehr als der Versuch etwas zu erraten sind. Jemand gesteht sich seine Unwissenheit ein, stellt jedoch trotzdem eine Vermutung an, die sich später als richtig oder falsch erweisen wird.
    In unserer Untersuchung sprechen wir von „Vorstellungen“ und „Ideen“, wenn die Menschen von der Richtigkeit ihrer Sichtweisen (um in diesem Bild zu bleiben) im Prinzip überzeugt sind. In den Fällen in denen sie es nicht sind, wollen wir von den „Vermutungen“ der Menschen sprechen.
    Mit „Auffassungen“ meinen wir Theorien im Kleinen, oder verkleinerte Theorien. Was heißt das? Die Menschen sind im Regelfall, sofern sie keine akademischen Karrieren anstreben, keine (wissenschaftlichen) Theoretiker. Sie stellen keine Theorien auf, sofern man den Begriff Theorie eng an die Wissenschaft knüpft. Deshalb werden die meisten Menschen üblicherweise nicht als Theoretiker im engeren Sinne bezeichnet. Gleichzeitig wenden die Menschen im Alltagsleben Theorien zur Erklärung individueller und allgemeiner Tatbestände an. Was kann in diesem Sinne mit Theorien gemeint sein?
    Theorien philosophischer oder wissenschaftlicher Art sickern zu den Menschen in allen Schichten durch und sei es auch nur als stille Post. Sie werden von ihnen weiterentwickelt, gestutzt, verfälscht, nach Belieben genutzt und verworfen, so dass es mehr einer Spur einer Theorie als wirklich einer Theorie gleicht. Diese Rudimente einer Theorie, also diese verkleinerte Theorie wollen wir für unser Unterfangen „Auffassungen“ nennen. Bei entsprechender Präzisierung verwenden wir auch gelegentlich die Bezeichnung „Alltagsthese“ oder „Populär-These“. Hingegen ist für uns eine populärwissenschaftliche These eine These die absichtlich von Fachleuten populär aufgearbeitet worden ist, um sie möglichst verständlich möglichst vielen Leuten darzulegen.
    Über Ideologie gibt es eine nicht überschaubare Literatur. Ideologie ist ein sehr alter Begriff, der schon ganz unterschiedliche Bedeutungen erfahren hat. Wir können uns damit nicht befassen, auch dies würde unseren Rahmen vollkommen sprengen. Wir wollen uns darauf beschränken anzudeuten, wie wir den Begriff „Ideologie“ verwenden. Da wir es nicht besser sagen können als einer der bedeutendsten Theoretiker der Ideologie, lassen wir ihn selber zu Wort kommen.
    „Es genügt, sehr schematisch zu wissen, dass eine Ideologie ein (seine eigene Logik und seine eigene Strenge besitzendes) System von Vorstellungen (Bildern, Mythen, Ideen oder Begriffen, je nachdem) ist, das im Schoß einer gegebenen Gesellschaft mit einer geschichtlichen Existenz und einer geschichtlichen Rolle begabt ist.“ (Althusser, S. 181) „Die Ideologie ist zwar ein System von Vorstellungen, aber diese Vorstellungen haben in den meisten Fällen nichts mit dem »Bewusstsein« zu tun: sie sind meistens Bilder, bisweilen Begriffe, aber der Mehrzahl der Menschen drängen sie sich vor allem als Strukturen auf, ohne durch ihr »Bewusstsein« hindurchzugehen. Sie sind wahrgenommene-angenommene-ertragene kulturelle Objekte und wirken funktional auf die Menschen ein durch einen Vorgang, der ihnen entgeht.“ (Althusser, S. 183) Neben den Vorstellungen geht es in unserem Text auch um diesen Vorgang. Die Zitate dienen an dieser Stelle auch dazu, den weiter vorne erwähnten weit gespannten Oberbegriff „Vorstellungen“ zu präzisieren. „Die Ideologie betrifft also das gelebte Verhältnis der Menschen zu ihrer Welt. Dieses Verhältnis, das nur unter der Bedingung, unbewusst zu sein, »bewusst« erscheint, scheint in der gleichen Weise nur unter der Bedingung einfach zu sein, dass es komplex ist, kein einfaches Verhältnis, sonder ein Verhältnis von Verhältnissen, ein Verhältnis zweiten Grades. Tatsächlich drücken die Menschen in der Ideologie nicht ihre Verhältnisse zu ihren Existenzbedingungen aus, sondern die Art, wie sie ihr Verhältnis zu ihren Existenzbedingungen leben: …“ (Althusser, S. 184) Diesen Zitaten ist für unseren Zweck an dieser Stelle nichts hinzuzufügen, zumal wir keine Abhandlung explizit über Ideologie schreiben. Wir wollen nur den Rahmen dessen andeuten, in welchem Sinne wir den Begriff „Ideologie“ fortan verwenden.
    Nun wollen wir kurz den von uns vorausgesetzten Kontext der Begriffe Gesellschaft und Individuum soweit klären, wie es für das Verständnis unserer kleinen Untersuchung nützlich ist.
 
III. Der Begriff Individuum
 
Die Individualität eines Menschen ist ein praktischer Vollzug, eine Realisierung, ein Sich-individuell-machen, kein messbarer Inhalt. Aber auch die Biographie erschließt ein Individuum nicht, es gibt immer ein Mehr über den Vollzug und die Biographie hinaus. Es ist kein starres An-sich, es geht unsagbar darüber hinaus; auf Grund der Freiheit ist es, das Individuum unsagbar und damit nicht messbar. Das Individuum kann sich selbst nicht vollständig erfassen, da es um existieren zu können, einen Abstand zu sich braucht. Der Mensch hat nicht die Seinsweise eines Steines. Da er ein Verhältnis zu sich selbst haben kann, kann er mit sich selbst nicht identisch sein; ein Riss lässt ihn fliehen. Wäre er mit sich selbst identisch, wie ein Stein, der bloß Stein ist, Stein und nichts als Stein, hätte er kein Bewusstsein (von sich). Von etwas muss er aber Bewusstsein haben, also hat er Bewusstsein von sich, das ergibt den Riss. Das Bewusstsein verhindert das Mit-Sich-Selbst-Identisch-Sein des Menschen. Nicht einmal im praktischen Vollzug der Anerkennung der Verhältnisstruktur menschlichen Handelns, wie es eine vermeintlich fortschrittliche Philosophie will, stellt sich die Einheit des Individuums her. Diese Einheit gibt es nicht. Man möchte fast sagen: Glücklicherweise. Aber wir wollen nicht vorgreifen.
    Es sei noch einmal erwähnt, dass man das Individuum nicht auf seine (individuelle)Geschichte reduzieren kann und darf. So sehr es philosophiegeschichtlich richtig war, der ontologisch bedingten Singularität etwas entgegenzuhalten, so sehr muss man sich davor hüten, das eine, den starren Block, gegen das andere, die Geschichte, auszutauschen. Das Individuum auf seine Geschichte zu reduzieren, gleicht die Existenzweise des Menschen zwar keinem Stein an, dafür ähnelt diese bei diesem Vorgehen einem Fluss, was auch nicht viel besser ist. Der Mensch ist nicht etwas, er ist der Riss durch das Sein. Er hat Bewusstsein von etwas, (von) sich, auch (von) sich unter anderem als Geschichte. Aber das „Gefäß menschliches Individuum“ lässt sich nicht füllen.
 
IV. Der Begriff Gesellschaft
 
Unter Gesellschaft verstehen wir den Raum, in dem alle Prozesse der Veränderung, die durch menschliche Arbeit geleistet wird, indem die menschliche Arbeit Mittel verwendet und auf gegebene Bedingungen anwendet, stattfinden. Der entscheidende Faktor in den Prozessen der Veränderung ist weder der Ausgangspunkt noch der vorläufige Endpunkt, sondern die menschliche Arbeit oder anders gesagt: die soziale Praxis. Die soziale Praxis umfasst verschiedene, sich ergänzende und miteinander konkurrierende Praxis-Arten. Die Gesellschaft ist der Raum in dem die soziale Praxis, der Komplex aller Praxis-Arten, stattfindet. Keine Praxis-Art findet außerhalb der Gesellschaft statt.
    Althusser unterscheidet neben der Produktion drei wesentliche Ebenen, die die soziale Praxis umfasst: Die politische Praxis, die ideologische Praxis und die theoretische Praxis.
    Für unsere Untersuchung dürfte die Ebene der ideologischen Praxis von besonderem Interesse sein. „ … (auch die Ideologie, möge sie religiös, politisch, moralisch, juristisch oder künstlerisch sein, verändert ihren Gegenstand: das »Bewusstsein« der Menschen)“, erläutert Althusser in einer Klammer. (Althuser, S. 105) „Nur eine ideologische Weltanschauung konnte Gesellschaften ohne Ideologien erdenken und die utopische Idee einer Welt zulassen, in der die Ideologie (und nicht eine ihrer historischen Formen), ohne Spuren zu hinterlassen, verschwinden würde, um durch die Wissenschaft ersetzt zu werden.“ (Althusser, S. 182) Wenn Vorstellungen, Ideen, Vermutungen und Thesen zur Ebene der ideologischen Praxis gehören und auch in der ideologischen Praxis bestimmte Gegebenheiten verändert werden, kann es uns nicht gleichgültig sein, was in dieser Praxis geschieht und welches die Auswirkungen dieser Praxis auf die Gesamtgesellschaft sind. Um noch einmal darauf hinzuweisen: Gegenstand der Untersuchung ist nicht, wie bestimmte Vorstellungen, Ideen usw. entstehen, sondern welches ihre Auswirkungen sind. Insofern schauen wir nicht der ideologischen Praxis „bei der Arbeit“ zu, sondern untersuchen die Ergebnisse bestimmter Prozesse innerhalb der ideologischen Praxis für die Ebene der ideologischen Praxis wie für die gesamte „soziale Praxis“. Noch einmal Althusser: „Die Ideologie ist also keine Verirrung oder ein zufälliger Auswuchs der Geschichte: sie ist eine für das historische Leben der Gesellschaften wesentliche Struktur. Allein die Existenz und die Anerkennung ihrer Notwendigkeit können es gestatten, auf die Ideologie einzuwirken und sie in ein Instrument der reflektierten Einwirkung auf die Geschichte zu verwandeln.“ (Althusser, S. 183) Wenn wir richtigerweise davon ausgehen, dass im letzten zitierten Satz Geschichte für „die komplexe Einheit der in einer bestimmten Gesellschaft existierenden Praxis-Arten“, die „soziale Praxis“ steht, und wir deshalb Geschichte durch Gesellschaft ersetzen, dann können wir sagen, dass wir hoffen, ein ganz klein wenig zu dieser reflektierten Einwirkung beitragen zu können.
 
Wenden wir uns nun den Auswirkungen der Vorstellungen, Ideen, Auffassungen und Vermutungen auf Gesellschaft und Individuum zu. An Hand der Ideologie kann man deutlich sehen, dass all diese Gegebenheiten, Tatbestände nahezu unzählbar vielen Wechselwirkungen ausgesetzt sind und die Frage nach dem Huhn und dem Ei in kaum einen Fall eindeutig beantwortet werden kann. Sind einzelne Vorstellungen Auswirkungen eines bestimmten gelebten Verhältnisses zwischen dem (einzelnen) Menschen und der Welt, und wenn ja welchen Verhältnisses, und wirken sie zurück auf dieses gelebte Verhältnis oder auf andere und werden sie davon auch wieder in einer fortwährenden Rückkopplung betroffen. Kein wissenschaftliches Modell kann derzeit solch theoretische Probleme lösen, sprich solch unendlich viele Verbindungen erfassen und adäquat aufzeigen. Deshalb werden wir absichtlich und künstlich die Wechselwirkungen abkoppeln, um in einem theoretischen Modellversuch die Auswirkungen der Vorstellungen, Ideen, Vermutungen und Auffassungen zugegebenermaßen quasi isoliert zu untersuchen. Ihre Entstehungsweise werden wir dabei überwiegend beflissentlich ignorieren.
 
V. Die Kontingenz und die Freiheit
 
Ob sich ein Mensch frei fühlt oder ob er meint, die Welt lasse ihm keinen Freiraum, ist keine Sache des Zufalls. Sein Leben bestimmt darüber, wie und was er fühlt; sein vergangenes, gegenwärtiges und zukünftiges Leben. Die Tiefenpsychologen sind sich zumindest darin einig, dass sie meinen, das vergangene Leben sei ausschlaggebend für das seelische Empfinden eines Menschen, und richten ihr Augenmerk auf die Vergangenheit. Im Fokus dabei die Familie, die soziale Umgebung, die Kultur sowie einschneidende Erlebnisse, sofern sie zur Erklärung etwas beitragen können. Soziologen schauen gern auf die gesellschaftlichen Einflüsse, auf das soziale Umfeld, denen ein Mensch bei seiner Entwicklung ausgesetzt war und unter denen er sich zurechtfinden muss. Ihr Augenmerk richtet sich auf die Vergangenheit und die Gegenwart. Andere meinen, dass Gott, die Natur, die Gene den Menschen wesentlich bestimmen und halten es deshalb für richtig, familiäre und gesellschaftliche Einflüsse zu vernachlässigen. In diesem Vieleck der Standpunkte ist jede Position mit unterschiedlichen Abständen zu den reinen Anschauungen möglich und tatsächlich gibt es im akademischen Betrieb wie außerhalb dessen kaum eine mögliche Zwischenposition, die nicht von irgend jemanden besetzt wird.
    Unsere Position ist für unseren Zweck gar nicht so entscheidend. Wir wollen weniger zwischen dieser Meinungsvielfalt Position beziehen, was natürlich manchmal nicht ausbleiben kann, sondern etwas anderes versuchen.
 
Angenommen das Leben habe keinen Sinn. Daraus würde folgen:
    Es gibt keine (falschen) Versprechungen; man muss allen misstrauen. Das Leben ist kontingent. Dieser Kontingenz kann man nicht entfliehen, auch wenn die Menschen dies immer wieder versuchen.
    Aber diese (wenn zutreffende) Einsicht, dass das Leben keinen Sinn hat, schützt einen auch vor Dogmen und Dogmatismus. Sie schützt davor, Programme, sei es politische, sei es philosophische, als Lebensinhalt zu wählen und damit diesen Inhalt über alles andere zu stellen, und sei es auf Kosten anderer. Diese (wenn zutreffende) Einsicht ist befreiend und bedeutet Freiheit. Die (meinige) Entdeckung der Kontingenz ist zugleich die Entdeckung der eigenen Freiheit.
 
Weil der Sinn des Lebens (des einzelnen Menschen) nicht in der Vergangenheit, nicht in der Zukunft, nicht im Sein liegt kann er frei sein, ist er frei. Weil die Welt kontingent ist, ist er frei, kann er frei sein.
    Soll die Vergangenheit, die Zukunft, das Sein das Fundament der individuellen Praxis, des eigenen Lebens oder auch der gesellschaftlichen Praxis ausmachen, ist Unterdrückung und die Unfreiheit mit am Werk. (Falsche) Ideale denen man sich zu unterwerfen hat.
    Wenn man sich gegenüber Kindern so verhält, als gebe es ein zu verfolgendes Ideal, dann passiert das Gleiche: Das Kind wird unterdrückt und einem (falschen) Ideal geopfert. Dieses Ideal mag in der Vergangenheit, in der Zukunft oder im Sein liegen. Das Verhalten ist keine Reaktion auf das Kind, sondern eine Erziehung des Kindes, um etwas zu erzielen. Liegt der Zweck der Handlung gegenüber dem Kind außerhalb der Handlung und außerhalb der Situation liegt Erziehung vor. Erziehung ist Manipulation und nimmt den „kleinen“ Menschen nicht so, wie er im Moment bzw. in der Situation ist. Das (falsche) Ideal von Erziehung ist weiterhin häufig die Zukunft, bzw. die Vorstellung einer bestimmten Zukunft. Das Ziel einer erzieherischen Handlung kann beispielsweise das Sozialverhalten des Kindes in der Zukunft sein. In diesem sehr häufigen Fall wird völlig übersehen, dass das Kind in der Gegenwart sozial ist. Denn jedes Kind ist von Geburt an sozial, da es mit seiner Umwelt kommunizieren muss.
    Wer die Welt als nicht kontingent „erlebt“, der nimmt die Welt zu Ernst. Die Welt ist dann nicht mehr eine unter vielen möglichen, nicht mehr eine die zufällig so besteht, wie sie besteht, und der Zufall auch einen anderen Weltzustand hätte herbeiführen können. Dass der Zufall letztlich nicht so zufällig ist, sondern sich auch als ein gewaltiges komplexes Unternehmen aus verschiedenen Interessen und vielen kleinen Geschichten darstellen lässt, ist selbstredend die andere Seite des Problems und ignorieren wir keinesfalls, was nur töricht wäre. Entscheidend ist vielmehr die existierende Welt als eine mögliche wahrzunehmen, die nicht wesensnotwendig so sein muss wie sie ist und nur in diesem Sinne zufällig ist. „Erlebt“ man auf diese Weise die Welt als kontingent, wird einem auch die Vergangenheit, das opake materielle Sein um einen herum wie sogar die Zukunft als kontingent erscheinen, da die Vergangenheit kontingent war und anders hätte sein können, das materielle Sein kontingent ist und anders geformt, gestaltet, existent sein könnte und sogar die nicht fertige, noch nicht existierende Zukunft auf vielerlei Arten und Weisen möglich ist und noch, wenn man so will, eine Möglichkeitsform darstellt. Zumal wenn die Vergangenheit und die Gegenwart eine andere hätten sein können, dies erst recht für die Zukunft gilt. Und doch wird nicht mehr jede Zukunft möglich sein, da sie von einer erstarrten Vergangenheit und einer einmaligen Gegenwart ausgeht. Doch auch hier ist entscheidend, dass sie eigentlich jede Form würde annehmen können.
    Sind Vergangenheit, das opake Sein und die Zukunft kontingent, dann lassen sich aus ihnen auch keine Ideale extrahieren, da diese Ideale folgerichtig rein zufällig, mögliche unter anderen möglichen wären, und somit keine Verbindlichkeit hätten, was der Definition von Idealen im Wesenskern widerspricht. Nur am Rande sei erwähnt, dass hierin ein Grund liegt, warum unhaltbare Ideale mit umso mehr Eifer und Fanatismus vertreten werden. Man leugnet ihren zufälligen bzw. willkürlichen Charakter und ersetzt diese Haltlosigkeit des Ideals durch Inbrunst, als würde sich das Dogma in der ständigen, meist monotonen Wiederholung als wahr erweisen. Der Haltlosigkeit jeden Ideals, welches in der Vergangenheit, dem Sein oder der Zukunft seinen Grund haben soll, tritt der (kindliche) Aberglaube an die Beweiskraft der Wiederholung entgegen.